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Die Quellen der Disneyfilme: Die Abenteuer von Huck Finn

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Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.

 

Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme

Auch wenn Die Abenteuer von Tom Sawyer von Anfang an ein großer Erfolg war, so dauerte es doch über acht Jahre, ehe Mark Twain 1884 die langerwartete Fortsetzung Abenteuer von Huckleberry Finn herausbrachte. Und auch wenn dieser Roman in vielem wie ein konsequenter Nachfolger von Tom Sawyer wirkt, so kann diese Einschätzung wirklich nur der oberflächlichsten Betrachtung standhalten.
In Wahrheit beginnen die Unterschiede zwischen den beiden Büchern bereits beim Namen. Während das erste Buch unter dem Namen „The Adventures of Tom Sawyer“ erschien und somit implizit versprach, alle erzählenswerten Anekdoten über den Lausbuben zu vereinen, heißt die Fortsetzung nur „Adventures of Huckleberry Finn“. Twain macht von Anfang an klar, dass dieses Buch einen Ausblick auf Hucks Geschichte bietet, aber gar nicht erst versuchen will, den jungen Lausbuben wirklich auszuloten.
Auch andere Unterschiede der beiden Romane sind direkt offensichtlich. So wird anstelle des allwissenden Erzählers von Tom Sawyer dieses Buch von Huck selbst erzählt, und das in einer ungeschliffenen Umgangssprache, wie sie selten Eingang in die hohe Literatur findet. Wiederum symptomatisch: Dieses Werk will keine „hohe Literatur“ sein, es weigert sich von der ersten Seite an mit Händen und Füßen gegen jeden Interpretationsversuch. „Wer versucht, in dieser Erzählung ein Motiv zu finden, wird gerichtlich verfolgt“ - deutlicher konnte Twain seine Meinung zu diesem Punkt kaum zum Ausdruck bringen. Und doch, ebenso sehr wie Huckleberry selbst, der allen „Sifilisierungs“- und Moralisierungsversuchen entgeht, nur um ganz aus Versehen von alleine ein guter Mensch zu sein, ebenso geht auch das Buch Abenteuer von Huckleberry Finn in den höchsten Kreis der Weltliteratur ein, ohne dieses Ziel je verfolgt zu haben. Oder wie Ernest Hemingway es ausgedrückt hat: „Die ganze moderne amerikanische Literatur stammt von einem einzelnen Buch von Mark Twain namens Huckleberry Finn ab. Die amerikanische Schriftstellerei kommt daher. Vorher gab es nichts. Seitdem hat es nichts Vergleichbares mehr gegeben.“

Huckleberry Finn erzählt die Geschichte des jugendlichen Herumstreuners Huck, einer Figur, die schon im Vorgänger Tom Sawyer drohte, der Hauptfigur das Rampenlicht zu stehlen, und seiner abenteuerlichen Reise auf dem Mississippi. Gemeinsam mit dem entflohenen Sklaven Jim macht sich Huckleberry in einem Floß auf den Weg in die Freiheit - für Jim bedeutet das die Freiheit aus Sklaverei und Knechtschaft, für Huck die Freiheit vor seinem gewalttätigen Vater und der erdrückenden Zivilisation. Auf dieser Reise begegnen ihnen eine Menge Abenteuer, hilfreiche und böswillige Menschen, allen voran die beide Gauner und Trickbetrüger, die sich als „Herzog“ und „Dauphin“ den Zugang auf das Floß erzwingen. Den Abschluss der Geschichte stellt eine längere Episode dar, in der schließlich auch Tom Sawyer auf einigermaßen konstruierte Weise wieder in die Geschichte gebracht wird und sich der Ton des Buches erneut stark dem leichtherzigen Vorgängerroman annähert.
Die gesamte Geschichte wirkt wie ein klassischer Episodenroman, und auf den ersten Blick scheinen die einzelnen Sequenzen beliebig austauschbar. Jedoch weist das Buch einen starken inneren Handlungsfaden auf, und jedes einzelne der vielen Abenteuer spielt eine wichtige Rolle für den inneren Reifeprozess, der den gesamten Roman über in Huck vor sich geht.
Denn das ist das eigentliche Thema, um das es in Huckleberry Finn geht: Hucks steter Kampf mit seinem Gewissen und seinen eigenen Moralvorstellungen. Ein Kampf, bei dem sich Huck wieder und wieder „egoistisch“ gegen sein Gewissen durchsetzt - und bei dem alleine dem Leser klar ist, dass Huckleberrys aufrechtes Handeln erst die wahre moralische Überlegenheit des Jungen belegt. Es ist eine geniale Verdrehung der Ansichtswelten, durch die Twain seine eigene Überzeugung hier ausdrückt, und Hucks Worte „Nun gut, dann fahre ich eben zur Hölle!“ werden zum höchsten Ausdruck ehrenvollen Handelns.



Es ist dieser Aspekt des Buches, der Huckleberry Finn zu seinem Status als unbestreitbarem Literaturklassiker verholfen hat. Das Buch ist einer der großen Meilensteine der amerikanischen Literatur, und so ist es kaum verwunderlich, dass es im Laufe der Jahre die verschiedensten Ansätze gab, Twains Meisterwerk angemessen auf die Leinwand zu bringen. Dabei wechselten sich ernsthafte Romanverfilmungen regelmäßig mit putzigen Kinderfilmen ab - wobei die Versuche, das Ergebnis gesellschaftlich akzeptabel zu halten, teilweise ins Absurde abglitten: Eine der früheren Verfilmungen ging so weit, Jim vollständig aus der Geschichte zu streichen.
Eigentlich ist es geradezu verwunderlich, dass die Disney-Studios bis 1993 warteten, ehe sie sich dem Romanstoff annahmen. Und noch verwunderlicher scheint, dass die Wahl dabei gerade auf dieses Buch fiel, und nicht auf den Disney-tauglicheren Tom Sawyer, der erst 1995 als Tom und Huck verfilmt wurde. Doch gerade im Vergleich zu diesem Sequel/Prequel spürt man bei Die Abenteuer von Huck Finn eine große Liebe zum Ausgangsmaterial und ein Bestreben, dem Buch eine wirklich würdige Verfilmung zu bescheren - freilich in der Ummantelung eines wahren Disney-Familienabenteuers.

Dieser Versuch, den Film so klassisch und originalgetreu wie möglich zu gestalten, zeigt sich bereits von der ersten Filmminute an, wenn in einem sehr traditionell gehaltenen Vorspann die Einblendungen zu altmodischen Holzschnittzeichnungen ablaufen. Und ganz generell ist die Geschichte sehr originalgetreu gehalten. Alle Handlungselemente sind vorhanden, alle wichtigen Episoden werden erzählt - mit der großen Ausnahme von Beginn und Ende des Buches, die im Film einem flüssigeren Handlungsbogen geopfert wurden.
Was den Anfang angeht, so haben diese Änderungen keine größeren Auswirkungen. Huckleberry Finn ist insofern eine direkte Fortsetzung von Tom Sawyer, als die Handlung des Buches nahtlos an den Vorgängerroman anknüpft; das Gold, das Tom und Huck in der Höhle gefunden haben, bildet einen der Handlungsauslöser der Fortsetzung. Dieser Einstieg wurde nun im Film insoweit abgewandelt, dass keine mühsamen Vorerklärungen mehr nötig sind, ansonsten sieht die Grundkonstellation der Geschichte absolut gleich aus.

Etwas anders sieht das beim Ende des Films aus: Der gesamte Schluss des Romans, der den Bogen zurück zu Tom Sawyer schlägt, wurde ersatzlos gestrichen, so dass nun die Exhumierung der Wilks-Brüder und Mary Janes Eingreifen das große Finale bilden. Auch hier ist der Grund zum Teil darin zu finden, dass Die Abenteuer von Huck Finn eben als eigenständiger Film funktionieren sollte, ohne die Anlehnung an den „älteren Bruder“ Tom Sawyer. Aber der eigentliche Grund geht wohl noch etwas tiefer. Das Ende von Huckleberry Finn hat mit seinem Stilbruch seit jeher die Leser gespalten, und es scheint nur allzu offensichtlich, dass Twain selbst große Probleme hatte, seine Romanhandlung stringent abzuschließen. Hemingways Meinung dazu ist eindeutig: „Beim Lesen muss man dort aufhören, wo der Nigger Jim den Jungen weggenommen wird. Der Rest ist gemogelt.“
Daher macht es absolut Sinn, dieses Ende für den Film zu kürzen - umso mehr, als die Episode der Wilks-Brüder sowieso das spannungsgeladene Herzstück der Geschichte ausmacht und die gesamte Nebenhandlung um Herzog und Dauphin auf grausige Weise abschließt.



Die Handlung des Films ist also alles in allem sehr nah an der Buchvorlage, mit dem einen Abstrich des grob gekürzten Endes. Heißt das nun, dass es sich bei Die Abenteuer von Huck Finn um eine wirklich buchgetreue Verfilmung handelt, die den Ton des Originals wiedergibt?
Teils und teils.

Wenn ich schreibe, dass man dem Film seine Disney-Zugehörigkeit anmerkt, so bezieht sich das vor allem auf die Gesamtstimmung des Werkes - und die wiederum hängt fast gänzlich an der Charakterisierung der Hauptfigur, Huck Finn. Ich könnte nun einiges über die Besetzung des jungen Elijah Woods als Huckleberry sagen, und ich weiß, dass dies generell als ein großer Kritikpunkt des Films gilt. Und ja, zweifellos ist die Darstellung von Huck nicht dieselbe wie im Buch. Er ist kein dreckiger Herumtreiber, kein Gossenjunge, sondern ein hübscher, adretter Kerl mit großen blauen Augen. Und so sehr er auch den Lausbuben spielt, sein Auftreten bleibt doch immer zu sauber und zu angenehm, als dass man ihm den verlausten Galgenstrick wirklich abnehmen würde.
Es ist keine originalgetreue Charakterisierung von Huckleberry Finn, und doch - ich finde, dass es eine passende Darbietung ist. Der junge Schauspieler liefert eine herausragende Performance. Seine Darstellung hat Herz, er lässt den Zuschauer Hucks andauernden inneren Kampf mitfühlen, und am Ende ist es genau das, worauf es bei der Geschichte ankommt. Ja, ich hätte gerne eine Verfilmung von Huckleberry Finn, in der der Junge wirklich als der raue Strolch dargestellt wird, der er im Buch zumindest äußerlich ist - aber dann zusätzlich zu diesem Film, nicht anstelle. Elijah Woods Huckleberry mag vielleicht nicht die realistischste Darstellung des Waisenbengels sein, aber von allen Verfilmungen, die ich gesehen habe, ist es doch diejenige, die die Emotionen des Buches am besten widerspiegelt.
Jim, der aus erzählerischer Sicht hauptsächlich als Hucks Kontrapunkt fungiert, ist sehr passend dargestellt. Ihm gelingt die nötige Gratwanderung eines einfach aufgewachsenen, ungebildeten Sklaven, der doch gleichzeitig den Mut und die Energie aufbringt, aus seiner festgelegten Position auszubrechen - und damit auch Huckleberry nachhaltig beeinflusst. Gleichzeitig füllt er auch die Rolle als Hucks Freund und Vertrauter voll aus, auf eine Weise, die sowohl historisch angemessen, als auch aus heutiger Sicht passend erscheint.
Auch die Nebenfiguren sind durchweg gut besetzt, allen voran natürlich das spaßig-finstere Gaunerpärchen von Duke und König. Und wenn all die Gestalten, denen Huck und Jim am Ufer des Mississippi begegnen, auch nicht ganz so denkwürdig verschroben erscheinen wie im Buch, so erfüllen sie ihren Zweck als Kulissenträger für Hucks Reise doch wunderbar.

Eine besondere Erwähnung ist die Tatsache wert, dass der Film für Disney-Verhältnisse ausnehmend wenig Rücksicht auf PC-Verträglichkeit nimmt. Huck greift ohne zu zögern nach dem Gewehr, wenn es um seine Verteidigung geht, und in einer Szene sieht man ihn sogar fröhlich eine Pfeife paffen - eine heutzutage undenkbare und auch für die neunziger Jahre noch bemerkenswerte Entscheidung.
In anderer Hinsicht war man dagegen doch etwas vorsichtiger, was den Umgang mit Sozialtabus angeht. Doch gerade bei den jüngsten Debattenüber eine angeblich notwendige Zensur von Twains Roman überrascht es kaum, dass das Wort „Nigger“ im Film nicht ein Mal vorkommt. Wie gesagt, diese Einschränkung war - wenn auch nicht direkt gutzuheißen - bei einem Disney-Mainstream-Film doch zu erwarten.



Generell ist die Frage der Rassenproblematik natürlich ein gewichtiger Punkt in jeder Huckleberry-Finn-Adaption. Dabei lässt sich direkt feststellen, dass auch dieser Film nicht an die Genialität von Twains Vorlage heranreicht - und das ist kaum verwunderlich, denn die brutale Ehrlichkeit des Buches ist auf einen massentauglichen Hollywoodfilm kaum übertragbar. Der Film verfolgt stattdessen einen direkteren, oft auch sentimentaleren Ansatz, um die gleiche Nachricht auf publikumswirksame Weise zu verbreiten, und es ist auf seine Art ein guter Ersatz.
Im Film ist alles ein wenig klarer und für Kinder eingängiger dargestellt. Jim hat mehr eigenen Charakter und seiner Rolle für Huck ist sentimentaler ausgebaut, während er gleichzeitig mit neu hinzugewonnenem Verständnis als direktes Sprachrohr für den Zuschauer fungiert. Dieses Sprachrohr ist im Buch nicht nötig; dort ist es ja gerade die schlichte Unaufdringlichkeit der Botschaft, die sie so eingängig macht. Aber für den Film war es ein praktikables Mittel, um das Publikum ganz direkt erreichen zu können, ohne sich Subtilitäten und unterschwelligen Aussagen zu verlieren.
Manchmal schießt diese Umwandlung freilich gänzlich am Ziel vorbei, wie in der Diskussion, die Huck und Jim über die verschiedenen Sprachen der Menschen führen. Was im Buch nur dazu diente, Jims Unwissenheit komisch darzustellen, wird im Film als Grundsatzgespräch behandelt - eine ungünstige Entscheidung, bedenkt man, dass das Argument, mit dem Jim für eine unabhängige Denkweise wirbt, in sich vollkommen absurd und fehlgeleitet ist.



Aber nichtsdestotrotz, im Prinzip handelt es sich um eine passende Umsetzung einer großen Vorlage. Der Film will nicht die Genialität des Buches wiedergeben, er will nur die Aussage des Werkes kindgerecht darbieten, und das gelingt vollkommen. Natürlich ist Twains Roman auch dieser Verfilmung um Längen überlegen, doch das ist bei dieser Vorlage wahrlich kein Wunder. Das, was der Film sein will, das ist er auch, und ich denke man kann sagen, dass die eigentliche Seele von Huckleberry Finn in dieser Verfilmung gebührend eingefangen wurde.


Mehr von mir gibt es auf www.AnankeRo.com.

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